Staat und Recht

Juridicum: Staat und Recht

Es war ein Schock für die rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien: Im Frühjahr 2017 wurde im Vorfeld der Hochschülerschaftswahlen bekannt, dass Anhänger und Funktionäre einer wahlwerbenden Organisation im Internet zu Gruppen versammelt waren, in der zutiefst menschenverachtende, teils antisemitische und rechtsradikale Inhalte ausgetauscht wurden. Die widerwärtigen Äußerungen von offenkundig krass unreifen Studierenden warfen ein schlechtes Licht auf das gesamte Juridicum, sodass Dekan Paul Oberhammer sich sogar die Frage einer Wiener Zeitung gefallen lassen musste, ob denn die Rechtsfakultät ein Hort rechter Umtriebe sei. Oberhammer verneinte und nannte einen solchen Eindruck ein „diffuses Sentiment“. Und er nützte die Affäre dazu, vor der Öffentlichkeit ein klares Bekenntnis darüber abzulegen, wofür seine Fakultät steht und was sie vermitteln will: „Wir streben in Lehre und Forschung danach, nicht bloß Rechtskenntnisse zu vermitteln, sondern auch die Grundlagen und Werte des Rechtsstaats“, erklärte Oberhammer in einer schriftlichen Stellungnahme zu der Affäre. „Die erschütternden Vorkommnisse motivieren uns dazu, diesen Weg weiter beherzt zu beschreiten.“

Von Benedikt Kommenda

Faktum ist, dass die Fakultät sich schon seit Jahren um eine Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus bemüht. Das Jahr 1988 war, 50 Jahre nach dem Anschluss, ein erster Anlass für eine größere systematische Rückschau, 2018 ist wieder ein solcher. Über diesen besonderen – und besonders drückenden – Aspekt der österreichischen Geschichte hinaus will Oberhammer aber ganz umfassend das Bewusstsein für die Bedeutung des Rechtsstaats und dessen Gefährdungen vermittelt wissen: „Die Universität soll auch eine Schule rechtsstaatlicher Gesinnung sein“, sagt der Dekan.

In der Einteilung der Studienfächer ist der Rechtsstaat ein Lehr- und Forschungsthema im öffentlichen Recht. Im Gegensatz zu anderen rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Österreich heißt die dafür zuständige Einheit in Wien aber nicht „Institut für öffentliches Recht“. Vielmehr ist es das „Institut für Staats- und Verwaltungsrecht“, das an der Universität Wien im Wesentlichen das Verfassungs- und das Verwaltungsrecht betreut. Das heißt: die rechtlichen Grundlagen des Staates und die Grundrechte, zu deren Wahrung er verpflichtet ist, einerseits; das Organisationsrecht und die Befugnisse der Verwaltung, die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen und die große Zahl an Verwaltungsmaterien andererseits – vom Abfall- bis zum Zollrecht.

Im Studienplan ist das öffentliche Recht im dritten und letzten Abschnitt angesiedelt. Ist es nicht seltsam, dass die Grundlagen des Staates erst zum Schluss kommen? Magdalena Pöschl, Professorin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, findet diesen Platz im Studium genau richtig. „Für junge Leute sind Begriffe wie ,Staat‘ oder ,Gebietskörperschaften‘ sehr ferne. Mit zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen tun sie sich leichter, weil sie diese aus ihrer Alltagserfahrung kennen.“ Pöschl hält es also für gut, dass sich die Studierenden erst zu einem Zeitpunkt mit abstrakten Entitäten auseinandersetzen müssen, zu dem sie sich schon viel mit anschaulicheren Rechtsthemen auseinandergesetzt haben. Außerdem werden ja schon ganz zu Beginn in der Einführung und der Rechtsgeschichte Grundlagen von Staat und Recht vermittelt, und in der „FÜM 1“ werden am Ende des ersten Studienjahres erstmals Europa- und Völkerrecht geprüft.

Das und die Erfahrungen aus dem weiteren Studium helfen dann, verfassungsrechtliche Phänomene wie die Kompetenzverteilung, die mittelbare Bundesverwaltung oder das rechtsstaatliche Prinzip zu verstehen. Und dabei zu erkennen, welche Bedeutung sie für das Gemeinwesen haben. Indem die Studierenden den Sinn und den Inhalt der rechtsstaatlichen Grundordnung vermittelt bekommen, sollen sie eine Verbundenheit mit den ihr zugrundeliegenden Werten entwickeln. Sachlich juristische Arbeit ist dabei oberstes Gebot; politische Befunde sind weniger die Sache der Öffentlichrechtler am Juridicum und werden jedenfalls klar von der juristischen Analyse unterschieden.

Die mit dem Verlauf des Studiums tendenziell wachsende Fähigkeit zur Abstraktion erleichtert noch aus einem weiteren Grund den Zugang zum Staats- und Verwaltungsrecht, erläutert Pöschl: „Im öffentlichen Recht ist man permanent mit neuem Recht konfrontiert. Der Stoff ist unübersehbar vielfältig, bunt und umfangreich.“ Gerade als Verwaltungsrechtler muss man in der Lage sein, ein Gesetz für die Anwendung neu zu erschließen, es selbstständig zu interpretieren, ohne auf eine teils jahrzehntealte Dogmatik zurückgreifen zu können. Diese Anforderung gilt für die Studierenden auch bei der schriftlichen Prüfung im Verwaltungsrecht: „Wir konfrontieren sie immer mit einem Gesetz, das sie kennen, und einem, das sie nicht kennen“, sagt Pöschl.

Ein gewisses Überraschungsmoment kann freilich auch den Lehrenden begegnen, und zwar auf eine sehr erfreuliche Weise: „Im Menschenrechtskurs war ich überrascht, mit welchem Vorwissen die Studierenden gekommen sind“, berichtet Elisabeth Holzleithner, Leiterin des Instituts für Rechtsphilosophie (das dem Institut für Staats- und Verwaltungsrecht nahe steht, doch davon später). So gesehen bildet der in jeder Beziehung fundamentale Bereich der Grund- und Freiheitsrechte vielleicht eine Ausnahme, was Nähe und Ferne für die Studierenden betrifft: Wiewohl zum öffentlichen Recht gehörend, stehen die Menschenrechte für viele angehende Juristinnen und Juristen schon sehr früh im Blickfeld. Wohl auch wegen ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung: „Die Studierenden haben ein hohes kritisches Engagement“, findet Holzleithner.

Felix Ermacora, Foto: parlament.gv.at

Als Forschungsschwerpunkt haben die Menschenrechte am Wiener Institut für Staats- und Verwaltungsrecht eine lange Tradition, bedingt – wie so oft – durch das persönliche Interesse eines Institutsangehörigen. Felix Ermacora (1923–1995), langjähriges Mitglied der seinerzeit noch existierenden Europäischen Kommission für Menschenrechte (diese ist Ende 1998 im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgegangen), hatte darüber ein erstes Standardwerk verfasst: Das Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte ist 1963 erschienen, ein Jahr später wurde Ermacora Professor an der Universität Wien. Einer seiner Schüler, Manfred Nowak, war und ist ebenfalls wissenschaftlich und praktisch auf dem Gebiet der Menschenrechte aktiv, als Professor an der Universität Wien einerseits und unter anderem als Sonderbeauftragter der UNO für Folter andererseits.

Mittlerweile sind die menschenrechtliche Forschung und Lehre auf mehr Schultern verteilt. „Es gibt keinen Staatsrechtler am Institut, der nicht über Menschenrechte arbeitet“, sagt Ewald Wiederin, Vorstand des Instituts. Derzeit ist eine zusätzliche Professur mit Schwerpunkt Grund- und Menschenrechte in Vorbereitung, deren Inhaber dann die Leitung des seit jeher eng mit der Fakultät verbundenen Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte übernehmen soll. Im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes ist schließlich auch das Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung engagiert, und dort vor allem Ursula Kriebaum und Manfred Nowak, der auch den Master-Lehrgang „Human Rights“ leitet. Dass im Jahr 2016 in einer Tageszeitung davon die Rede war, am Juridicum würde sich künftig kein Professor mehr mit dem Menschenrechtsschutz befassen, findet Dekan Oberhammer falsch. „Das waren ‚fake news‘ im engsten Sinn des Wortes“, sagt er.    

Schon seit November 2015 hält wieder eine Angehörige der Universität Wien für Österreich die Stellung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg: Gabriele Kucsko-Stadlmayer, als Professorin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht teilkarenziert, ist seither Richterin in Straßburg.

Wie die Grund- und Menschenrechte sind auch die theoretischen Grundlagen des Rechts ein Forschungsfeld, das alle Lehrenden am Institut beackern. „Wir arbeiten alle sehr grundlagenorientiert“, sagt Wiederin. Jüngstes Beispiel: Michael Potacs, der mit dem Studienjahr 2017/18 von der WU ans Juridicum gewechselt ist, hatte neben Jus auch Philosophie studiert; Rechtstheorie und Methodenlehre zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. Umgekehrt steht das Institut für Rechtsphilosophie, das primär das Feld der Rechtstheorie bestellt, dem Institut für Staats- und Verwaltungsrecht sehr nahe: Elisabeth Holzleithner und ihre Professorenkollegen Alexander Somek und Clemens Jabloner beschäftigen sich allesamt auch mit dem öffentlichen Recht.

(v.l.n.r.) Adolf Julius Merkl, Foto: Bildarchiv Austria, ÖNB - Hans Kelsen, Foto: uni-koeln.de

Clemens Jabloner verkörpert das Zusammenspiel der Fächer in besonderer Weise: Der ehemalige Präsident des Verwaltungsgerichtshofs verfügt über eine Lehrbefugnis im Öffentlichen Recht, gehört dem Institut für Rechtsphilosophie an und hält dort die Tradition des Rechtspositivismus und der Reinen Rechtslehre hoch, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Hans Kelsen und Adolf Merkl an dieser Fakultät begründet worden ist.

„Aus der Sicht der Reinen Rechtslehre ist zu sagen, dass es früher vielleicht ‚dramatischer‘ zugegangen ist“, meint Jabloner. „Man hat sich entweder zu Kelsen bekannt oder ihn bekämpft. Heute vertraut man darauf, dass sich die Methode eben anhand der konkreten Arbeiten zeigt. In diesem Sinn ist die Wirkung Kelsens und Merkls ungebrochen.“ Dekan Oberhammer bringt es so auf den Punkt: „Heute sind auf irgendeine Weise alle Positivisten und grenzen sich ab von politischen Befunden.“
 
Richtig neu ist dieses Phänomen allerdings nicht, merkt Jabloner an, vielmehr reicht es letztlich bis ins 19. Jahrhundert zurück: „Es ist zu berücksichtigen, dass die Reine Rechtslehre nicht gleichsam vom Himmel gefallen ist, sondern eine Zuspitzung der auch schon bis dahin im älteren österreichischen Staatsrecht maßgebenden rechtspositivistischen Dogmatik war. Dieser Denkstil ist also ungebrochen wirksam, was ich für sehr erfreulich halte.“

Gezielte Grenzüberschreitungen kommen nicht nur zwischen den Fächern vor – wie die Rechtsphilosophie ist etwa das Steuerrecht ebenfalls ein Nachbar des Staats- und Verwaltungsrechts –, sondern auch zwischen verschiedenen Rechtsordnungen. Das können andere nationale Rechte ebenso sein wie das Völkerrecht und das Europarecht, das ja kraft der Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union zugleich auch hierzulande geltendes Recht ist. Mit diesem Zusammenwirken von staatlichem und europäischem Recht beschäftigt sich Potacs übrigens ebenfalls sehr intensiv.

Auch für Franz Merli, der 2015 von der Universität Graz ans Wiener Juridicum gekommen ist, bildet das Zusammenspiel verschiedener Rechtsordnungen einen Forschungsschwerpunkt. „Wie geht man damit um, dass das Verwaltungshandeln zum Teil vom österreichischen Recht, zum Teil von internationalem Recht vorbestimmt ist?“, lautet für Merli eine der Fragen. Sie mündet zwangsläufig in der Erkenntnis: „Die staatliche Herrschaft ist wesentlich vielfältiger geworden, unter anderem durch die Internationalisierung des Rechts. Wie viele andere am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht hat auch Merli in seiner Laufbahn im Ausland mehrfach Station gemacht. Nach seinem Studium und der Habilitation in Graz war er drei Jahre lang in Heidelberg und acht Jahre in Dresden, ehe er nach Graz zurückgekehrt und von dort nach Wien gekommen ist.

Während die internationale Einbettung am Institut gewissermaßen Programm ist und mit der Berufung Potacs’ das Augenmerk auf das Öffentliche Wirtschaftsrecht gezielt verstärkt wird (das ist Potacs’ dritter Forschungsschwerpunkt), sind andere Qualitäten dem Institut eher zufällig zugewachsen. Zum Beispiel ein fester Platz für das Medizinrecht, das man nicht so ohne Weiteres dem Staats- und Verwaltungsrecht zuordnen würde. Wieder einmal waren es die fachlichen Interessen einer einzelnen Person, die vor etlichen Jahren den Ausschlag dafür gaben.

Foto: Institut für Ethik und Recht in der Medizin

Christian Kopetzki, Absolvent der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät, war im Öffentlichen Recht ein Schüler der Professoren Felix Ermacora und Günther Winkler, des geistigen Vaters des Wiener Juristengebäudes „Juridicum“.  Nach seinem Jusstudium hat Kopetzki auch noch ein Medizinstudium absolviert. Den Arztberuf hat er mangels eines „ius practicandi“ zwar nie ausgeübt, aber für das Medizinrecht hatte er, wie er selbst sagt, „immer ein starkes Interesse“.

Also hat Kopetzki sich im Öffentlichen Recht und im Medizinrecht habilitiert, und als er jeweils an erster Stelle für die Besetzung zweier Ordinariate für genau diese beiden Fächer gereiht wurde, entschloss Kopetzki sich für das Medizinrecht. Er blieb aber am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, an dem er zuvor schon fünf Jahre lang als außerordentlicher Professor gearbeitet hatte. Mit der Entscheidung, eine Professur für Medizinrecht einzurichten, hat die Fakultät Weitblick bewiesen: Das Interesse der Studierenden an dem interdisziplinären Fach ist seither ungebrochen. Es verbindet unter anderem ärztliches Berufsrecht, Arzneimittelrecht, Sachwalterschafts- bzw. Erwachsenenschutzrecht, Grundrechte und Bioethik miteinander.

Ein anderes Studienfach, das dank einer Persönlichkeit seinen Ausgang am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht genommen hat, ist das Steuerrecht: Gerold Stoll, einst sogar Vorstand dieses Instituts, hat als erster Ordinarius für Finanzrecht das wissenschaftliche Fach an der Fakultät und überhaupt in Österreich begründet. Mittlerweile gibt es längst ein eigenes Institut für Finanzrecht, heute unter Leitung von Sabine Kirchmayr-Schliesselberger. Noch längere Tradition als eine Art Nachbarfächer des Öffentlichen Rechts haben die Institute für Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung.

Zurück zum Staats- und Verwaltungsrecht. Im denkwürdigen Jahr 2016, in dem der Verfassungsgerichtshof mit dem zweiten Durchgang der Wahl des Bundespräsidenten erstmals eine österreichweite Wahl als verfassungswidrig aufgehoben hat, ist das Öffentliche Recht stärker denn je in der Öffentlichkeit wahrgenommen und auch diskutiert worden. Nicht alle hatten Verständnis dafür, wie und warum der Verfassungsgerichtshof auf der Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundregeln beharrte.

In solchen Momenten ist dann im öffentlichen Diskurs oft Expertenwissen gefragt. Es fällt auf, dass von den in Wien tätigen Verfassungsrechtlern eher diejenigen in Medien vorkommen, die an der Universität bereits emeritiert sind. Heinz Mayer etwa, von 2006 bis zu seiner Emeritierung 2014 Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, ist nach wie vor ein häufig ge- und befragter Gesprächspartner für Medien. Mayer versteht es, in kürzester Zeit stets bestens argumentierte und pointiert formulierte Rechtsstandpunkte zu entwickeln. Nicht dass Mayers Nachfolger am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht keine Standpunkte hätten: Aber sie bevorzugen es bisher, diese eher im Hintergrund – und vielleicht nach einer kurzen Bedenkzeit – mit Journalisten zu teilen. Auch sie sind also ohne weiteres bereit, die „Third Mission“ der Universität zu erfüllen, also Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen, wenn auch bisher auf etwas diskretere Weise als die Generation ihrer Vorgänger.